Nias
Die Insel Nias gehört zur Provinz Sumatera Utara, West-Sumatra. Sie hat eine Fläche von 4.771 Quadratkilometern und eine Breite von 40 Kilometern. Nias hat heute etwa 650.000 Einwohner und wird von den Bewohnern Tanö Niha genannt, was übersetzt „Land der Menschen“ bedeutet. Die Niaser bezeichnen sich selbst als ono niha, „Abkommen des Menschen“ bzw. „Menschenkinder“. Die traditionelle Kultur wird als fondrakoe bezeichnet und basiert auf einem tradierten Verhaltenskanon, genannt hada, entsprechend dem gemein-indonesischen adat. Auf Nias wird eine gemeinsame Sprache des austronesischen Zweiges gesprochen. Aufgrund der relativen Kargheit der Insel sind die Niaser seit alters eher als Krieger, Handwerker und Fischer denn als Bauern bekannt. Vor allem Süd-Nias ist wegen der teilweise bemerkenswert gut erhaltenen bzw. gepflegten Dörfer, deren spektakuläre Bauten und Straßen sowie Steinsetzungen aus Megalithen seit jeher allen Besuchern ins Auge fielen, heute touristischer Anziehungspunkt.
Wie die anderen Inseln Indonesiens, so ist auch Nias seit langer Zeit besiedelt. Es hat sich bei archäologischen Untersuchungen herausgestellt, dass Nias seit mindestens 12.000, wahrscheinlich jedoch seit über 30.000 Jahren bewohnt ist. Es ist wahrscheinlich, dass die Kultur der Niaser unmittelbar auf austronesische neolithische Migration vom südostasiatischen Festland zurückgeht. Um die Zeitenwende kann mit einer metallzeitlich-austronesischen Kulturdominanz gerechnet werden („alt-malaiisch“ im alten Sprachgebrauch). Diese stehen u. a. im Kontext der Migrationswellen, die die machtpolitischen Auswirkungen der Han-Dynastie um die Zeitenwende bis zu deren Zusammenbruch nach 221 u.Z. mit sich brachten. Die Küsten Sumatras und des benachbarten Festlandes sind schon seit dem Altertum eine Schnittstelle des internationalen Handels. Die Wasserstraße zwischen Nias und Sumatra ist zwar wegen der häufigen Stürme schwierig zu befahren, dennoch wird die Insel bereits im 16. Jahrhundert in europäischen Logbüchern erwähnt, nachdem sie schon lange bei arabischen, indischen und chinesischen Seefahrern wohlbekannt war. Arabische Berichte über Nias reichen bis in die Zeit der Abbasiden-Kalifate zurück. Die Bewohner lebten von den Früchten des Kokos-Baums, stellten Palmwein her und betrieben Kopfjagd, so wird in frühen Quellen berichtet. 1669 erschienen die ersten Holländer als Nachfolger der Araber, Inder und Malaien auf Nias.
Die Niaser haben eine unverkennbare materielle Kultur entwickelt, die unter anderem in einer einzigartigen Monumental-Architektur ihren Ausdruck findet. Die traditionellen niasischen Häuser omo hada, wörtlich „Haus der Tradition“, zählen zu den bemerkenswertesten Holzkonstruktionen weltweit. Die mächtigen Häuser adliger Niaser sind durch eine hohe Erdbebensicherheit gekennzeichnet und stellen eine herausragende Ingenieursleistung dar. Die Hauptwege und wichtigen Plätze der Dörfer sind mit Steinplatten gepflastert, sodass der Besucher niasischer Dörfer bisweilen überrascht von der „modernen“ Anmutung ist. Dazu kommt, dass fließendes Wasser über ein Kanalsystem und öffentliche Badanlagen seit Jahrhunderten üblich sind. Vor allem im Süden von Nias gibt es noch gut erhaltene „Vorzeige-Dörfer“, die teilweise als Weltkulturerbe eingestuft sind. Die niasischen Dörfer zeichnen sich auch vor allem durch die megalithischen Strukturen (gowe) aus, die man allenthalben antrifft. Megalithen, deren Errichtung bei wichtigen Anlässen stattfand, sind ein besonders prägender Aspekt der Nias-Kulturen, waren früher allerdings auch in anderen Gebieten Indonesiens in ähnlicher Weise prägend und von essenzieller sozialer Bedeutung. Anlässe für die Errichtung boten wichtige Hochzeiten oder die Errichtung eines neuen Dorfs oder Häuptlingshauses.
In der niasischen Kultur spielt die Kopfjagd seit alters her eine bedeutende Rolle. Der Begriff „Kopfjagd“ ist allerdings sehr fragwürdig und technisch auch nur bedingt zutreffend, denn er impliziert eine Trophäenjagd. Das ist jedoch nur sehr bedingt zutreffend. Denn die Kopfjagd, so makaber und schrecklich sie sich in ihrer Ausführung darstellt, ist letztlich als Ausprägungsform einer Konzeption von Seelen- beziehungsweise Lebensenergie anzusprechen. Kopfjagden wurden vor wichtigen Hochzeiten und im Rahmen der Gedenkfeiern zur Statuserhöhung der Ahnen und der Einweihungsfeste für Häuptlingshäuser durchgeführt, die dadurch zu omo lasara, Häusern des lasara, der drachenartigen Erdgottheit, wurden. Das gilt auch für die der Errichtung der großen Megalithen. Kopfjagden bzw. Kriegszüge, die in die „Entnahme“ eines oder mehrerer Feindesköpfe mündeten, dienten aber auch zur Absicherung der kosmischen Ordnung, was in der Mythologie in Metaphern umschrieben wird. Die Kopftrophäen wurden in unterschiedlicher Weise behandelt. Teilweise wurden die erbeuteten Köpfe für späteren Gebrauch provisorisch begraben. Teilweise wurden sie in der bale, dem Versammlungshaus ausgestellt.
Die Niaser galten früher als wilde Krieger, die als Gegner gefürchtet und als Söldner gesucht waren. Die Dörfer waren in strikt hierarchische Kriegergesellschaften strukturiert, die von lokalen Herrschern regiert wurden, welche sich nicht nur durch Abkunft legitimierten, sondern auch immer wieder neu durch persönliche Fähigkeiten auszeichnen mussten. Adlige und Freie männlichen Geschlechts hatten fast zwingend Kriegerstatus. Angesehene Krieger und Häuptlinge waren aufgerufen, ihren Rang durch erfolgreiche Kopfjagd immer wieder erneut zu bestätigen und zu erhöhen, da die Trophäen für Hochzeiten, Feierlichkeiten wie die awasa-Dankfeste und Errichtung wichtiger Bauten von großer Bedeutung waren und als Schutzgeister für die Dörfer fungierten. Statusabzeichen wie große Halsringe oder spektakuläre Fetischkörbe am balato, dem für Nias spezifischen Schwert, wiesen die Krieger als erfolgreiche Kopfjäger aus.
Einen wichtigen Raum im Sozialgefüge nehmen die rites de passage, die Übergangsriten im Zusammenhang mit den großen Themenbereichen des Lebens, wie Initiation, Geburt und Tod ein. Von zentraler Bedeutung für das soziale Gefüge sind Bestattungsrituale. Bestattungshäuser erhalten auf Nias einen prominenten Platz vor den Häusern. Diese alte Tradition ist in vielen Teilen des austronesischen Kulturraums üblich, wie z. B. bei den Batak, den Dayak, den Toraja etc. und wird bis heute von der Mehrheit der christlichen Niasern gepflegt. Freistehende Holzskulpturen von menschlicher Form werden auf Nias adu genannt. Adu haben im Wesentlichen die Funktion eines Sprachrohrs in die Sphäre der Ahnen. Ihre Bedeutung liegt nicht in den Figuren an sich, sondern darin, dass sie im Rahmen der Rituale temporärer Sitz der eigentlichen Adressaten, das heißt der astralen Wesen, werden können.