Ritualmesser „tempesing“

Der Griff dieses außergewöhnlichen Messers (tempesing oder lunggai, wörtl. „Feder“) kann geradezu als Lehrstück für Kenyah-Schnitzarbeiten auf dem höchsten Level angesehen werden. Es wurde ein ausgesuchtes Stück gegabelten Sambar-Hirschgeweihs verwendet, das in diesem Fall praktisch keinen porösen Kern hat. Der ganze Aufbau gruppiert sich um die zentrale durchbrochene Doppelspirale, die die Seelen- bzw. Jenseitsreise und die Fähigkeit zur Umwidmung von Lebensenergie durch den Krieger und Kopfjäger verkörpert. Oberhalb der Spirale ist der aso, der die Unterwelt verkörpernde Drache, als Empfänger der Seelen und Moderator der Kopfjagd zu erkennen. Die beiden Hauptarme des Griffes, die ihn einfassen, verlieren sich förmlich in einem Gewirr von fast lebendig wirkenden, ausgreifenden Blutegel-Gruppierungen (lemetak) – morphologisch wohl ursprünglich Teile des aso-(Drachen-)Körpers, aber im Laufe der Zeit zu eigenständigen Motivgruppen losgelöst und uminterpretiert. Egel sollen die Kopfjagd durch ihre Affinität zu Blut bzw. Blutnahme katalysieren (Heppell 2005: 124 ff.). Diese Interpretation ist allerdings fragwürdig und wird in frühen Quellen nicht erwähnt. Wahrscheinlicher ist eine freie Uminterpretation von Teilen der Drachen- und taotie-Motive (Tigermasken, Totem-Motive mächtiger Stämme der alt-chinesischen Zhou-Dynastie), die, ursprünglich noch aus China kommend, im Laufe der vielen Jahrhunderte nach der Zuwanderung der Dayak (wörtlich „die Gekommenen“) nach Borneo erfolgte. Der Vergleich mit Han- und Zhou-Kunst zeigt das deutlich: Die Fabelwesen haben mächtige Reißzähne und Krallen, die im Laufe der Zeit als unheilabweisende Elemente immer extremer ausgeprägt wurden. Wie auch andere Alt-Austronesier sind die Dayak zumindest teilweise Nachkommen südwest-chinesischer Völker, die während und nach dem Zusammenbruch der Han-Dynastie zunehmend nach Südostasien abwanderten.

Mancherorts erkennt man an diesem Griff, dass sich geknickte Elemente zwischen den „Egeln“ erkennen lassen, die auf Gliedmaßen entweder des aso oder aber der Menschenformen zurückführen lassen, die dem aso-Drachen anheimfallen. Ähnlich wie die Zähne und Krallen der Fabelwesen sind die Gliedmaßen aus dem ursprünglichen Kontext herausgelöst und als Einzelelemente neu gruppiert worden. An der Basis des Griffes sind kleine kreisförmige Formen erkennbar, die dezente Andeutung des Kopf- oder Schädelmotivs sein dürften. Die ursprüngliche Bewicklung der Handhabe ist verloren. Das Messingdraht-Geflecht im unteren Bereich deutet auf Kenyah- oder vielleicht auch Iban-Arbeit hin. Dass das lunggai oder tempesing, das Beimesser des mandau, höher geschätzt wurde als das mandau selbst, wie in einigen alten Quellen kolportiert wird, entbehrt jeglicher Grundlage. Es ist auch nicht belegt, dass die Messer vor allem zum „Reinigen“ der genommenen Köpfe oder zum Durchtrennen der Kiefermuskulatur zur Vermeidung von Flüchen durch den separierten Kopf verwendet wurden. Es waren Alltags- und vor allem auch Schnitzwerkzeuge, oft die einzig verfügbaren, was die immense Qualität einiger Arbeiten an den Griffen noch erstaunlicher macht. In den allermeisten beobachteten Fällen sind die Messer weniger aufwendig gestaltet als die mandau. Wahrscheinlicher ist, dass sie vor allem wegen der funktionalen Nähe zu (Reis-)Erntemessern einen ähnlichen Status hatten wie die mandau selbst, da das Schneiden der Ähren, das immer einzeln vorgenommen wurde, oder auch das Schneiden von Früchten oft mit dem „Schneiden“ der Köpfe gleichgesetzt wurde.

Es stellt sich die Frage nach dem Zweck des Messers, denn es kann nicht in üblicher Weise an der Scheide des mandau getragen worden sein – dafür ist die Form ungeeignet. Es gibt mehrere Möglichkeiten, die in Betracht zu ziehen sind. Das Messer war eventuell für Erntedank-Rituale bzw. das ritualisierte Schneiden der ersten Ähren vorgesehen. Die sehr starke Herausstellung des Lebenszyklus in den Ornamentgruppen des Griffes, vor allem der zentralen Spirale, deutet jedoch auf einen Kontext mit den rites de passage (Geburt, Initiation, Tod) hin. Die Schenkung solcher Messer zwischen Adeligen steht im Kontext mit Fruchtbarkeit und der Fortführung der Genealogien. Zwischen Klingen und neugeborenen Kindern besteht bei den Dayak durchgängig ein geheimnisvoller Zusammenhang. Die Iban glauben, dass der Gott Selempandai, der „göttliche Schmied“, die Seelen der Kinder schmiede und in seinem Wassertrog härte – erst dann sei die Empfängnis möglich (Sather 1988: 74). Sehr gut möglich ist auch eine Verwendung durch den Schamanen im Kontext der Rituale (pelian), die die werdende Mutter vor Unheil und Fehlgeburten schützen sollten. Eines dieser Rituale ist das „Abschirmen“, das zwischen dem dritten und fünften Monat der Schwangerschaft durchgeführt wird. Die Übersetzung von pelian jereki bedeutet in etwa „das Errichten eines Zaunes“ (Sandin, 1978: 58). Dabei wird ein symbolischer Schutzwall aus gewobenen Matten auf der Galerie des Langhauses errichtet. Vor allem bei Albträumen der Mutter und der nahestehenden Verwandtschaft sind abschirmende Maßnahmen (belimbu ayu) erforderlich, bei denen auch Wasser mit einer Klinge auf die umgebenden Matten geschleudert wird. Die Schutzgottheit dieser schamanischen Praktiken ist Raja Menjaya, der Schutzpatron der Schamanen und Heiler. Spezielle Klingen sind zur Bekämpfung übelwollender Geister vorgesehen, denn Eisen wird im Allgemeinen als apotropäisch angesehen. Dieselben Maßnahmen kennt man auch bei den Batak auf Sumatra und den Paiwan auf Formosa. Wenig wahrscheinlich ist dagegen die Verwendung für die Durchschneidung der Nabelschnur bei der Geburt eines Adeligen; für gewöhnlich wurde hierfür ein Bambusspan oder Silberblatt verwendet; seltener ein eisernes Messer (Sandin 1980: 64).

 

Objekt Ritualmesser „nyu“, „lunggai“, „tempesing“
Kultur  West-Borneo, Sarawak oder Kalimantan, Kenyah (evtl. Iban)
Zeit Um 1900
Maße Länge: 35 cm
Material Stahl, Hirschhorn, Rattan, Haar
Weiterführende Literatur Zurück zur Raumansicht