Naga

„Naga“ ist ein ethnogenetischer Sammelbegriff für 32 ausgewiesene Volksgruppen in den „Sieben Schwester-Staaten“ im Nordosten des indischen Subkontinents und dem benachbarten Myanmar. Nordost-Indien ist ein ethnisch und kulturell sehr heterogenes Gebiet. Man kann dabei eine kulturelle Hauptunterscheidung zwischen den Ebenen und den Bergregionen treffen. Die Berge sind Siedlungsgebiete der Naga. Die Bewohner der Tieflande, der Brahmaputra-Ebene, stehen kulturell dem übrigen Indien nahe, ebenso die Bundesstaaten Süd-Assam und Tripura, die sich historisch der Großregion Bengalen zurechnen lassen. Die Einwohner dieser Gebiete sprechen hauptsächlich Assamesisch und Bengalisch, zwei indoeuropäische Sprachen. Hingegen sind die Bergregionen Nordostindiens, wo die Naga leben, kaum von der indischen Sanskrit-Kultur durchdrungen worden. In den sieben Staaten Nordost-Indiens, in denen Naga ansässig sind, leben insgesamt etwa 50 Millionen Menschen. Ein großer Teil der Bevölkerung konzentriert sich dabei auf die Brahmaputra-Ebene. Assam ist mit 31 Millionen Einwohnern der mit Abstand einwohnerstärkste Bundesstaat Nordostindiens. Die Naga sind im heutigen Bundesstaat Nagaland, welcher seit 1963 besteht, Assam, sowie die Provinzen Manipur und Arunachal Pradesh anzutreffen. Der Schwerpunkt ihres Siedlungsgebietes liegt zwischen dem Brahmaputra- und dem Chindwin-Fluss. Ein Teil der als Naga bezeichneten Minoritäten lebt auch in der Sagaing-Division im Nordosten Myanmars. Ihre heutige Gesamtzahl wird auf 3,5 bis vier Millionen Menschen, verteilt über 120.000 Quadratkilometer, geschätzt.

Die Naga haben in ihrem Äußeren, ihren Sprachen und ihren Gebräuchen nach viele Gemeinsamkeiten mit den Einwohnern Südost-Asiens. Viele Kulturmerkmale der Naga sind zum Beispiel denen der Bidayuh-Gruppen in Sarawak/Borneo oder auch denen der Igorot auf Luzon derart ähnlich, dass es sich hier kaum um eine unabhängige Entwicklung handeln kann. Sprachlich gibt es Differenzen. Während die indo-malaiischen Gruppen allesamt austronesische Sprachen sprechen, ist unter den Einwohnern der Bergregionen Nordost-Indiens und Myanmars eine Vielzahl von Kleinsprachen verbreitet, die größtenteils zur tibeto-birmanischen Sprachfamilie gehören. Woher der Begriff „naga“ stammt, war lange Zeit Thema der Diskussion. Eine Theorie besagte, dass er für „nackt“ steht, nach einer anderen wird eine Verbindung zum Sanskrit-Wort naga, Schlange, vermutet. Wahrscheinlicher ist, dass der Name von nag, Sanskrit „Berg“, herrührt. Wie auch bei den Igorot (Luzon) und Toraja (Sulawesi) würde naga dann „Leute der Berge“ bedeuten, die von nachdrängenden Ethnien und Staaten in die unwegsamen Regionen abgedrängt wurden. Eine andere Erklärung beruft sich auf das Ao-Wort nok, „Krieger“. Heute wird jedoch mehrheitlich angenommen, dass der Begriff aus dem birmanischen na ka, „durchlöchertes Ohr“, entstanden ist und sich auf traditionellen Ohrschmuck aus Büffelhornspitzen bezieht.

Die Naga sollen, ihrer Überlieferung zufolge, noch vor dem 12. Jahrhundert in das heutige Siedlungsgebiet aus dem Osten zugewandert sein. Bevor Nagaland 1963 den Status eines Bundesstaates erhielt, gehörte die Region zum Teilstaat Assam. Assam stand zwischen dem 12. und dem 17. Jahrhundert unter der Herrschaft der Thai-Ahom-Könige. Diese wurden von den Burmesen unterworfen, die dann wiederum von der britischen „East India Company“ besiegt und dem Empire eingegliedert wurden. Die ältesten historischen Aufzeichnungen zu den Naga stammen aus dem 12. Jahrhundert aus dem Reich der Ahom-Könige, die über Assam herrschten. Vieles deutet explizit darauf hin, dass die Naga bzw. ihre Vorfahren vor langer Zeit in Meeresnähe lebten oder zumindest intensive Verbindungen zu in Meeresnähe lebenden Ethnien hatten. Dazu gehört zum Beispiel das weit verbreitete Muschelgeld. Ihre Migration lässt sich stufenweise nachvollziehen; der letzte „Sprung“ war aus Thangdut im heutigen Myanmar in historischer Zeit. Die Migration der Naga verlief zunächst in den Jahrhunderten nach der Zeitenwende von Yunnan aus südostwärts, die großen Wasseradern entlang bis zu den Küsten Südostasiens. Zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert wurden sie teilweise durch Malaien und Khmer abgedrängt und wanderten nach Nordwesten ab. Andere, kulturell verwandte Gruppen wurden nach Indonesien, Borneo, Philippinen und Malaysia und bis weit in die Südsee verschlagen. Es gibt sprachliche Verwandtschaften bis nach Polynesien und Neuseeland.

Die Naga im engeren Sinne verfügten nie über ein gemeinsames eigenes Reich. Innerhalb der verschiedenen Gruppen, die sich in Clans (khel) unterteilen, war die Gesellschaft von aristokratisch bis demokratisch organisiert. Die Organisationsformen der Gesellschaft weisen sehr deutliche Übereinstimmung mit ostindonesischen und mela- sowie polynesischen Gesellschaften auf. Die Junggesellen eines khel lebten z. B. in Gemeinschaftsunterkünften, genannt morung. Die bei den Naga früher generell praktizierte Kopfjagd stand im Zusammenhang mit Initiationsriten, und wie auf Borneo und in Ost-Indonesien hängt das durch die Kopfjagd dokumentierte Nehmen von Leben außerhalb der Gemeinschaft unmittelbar mit der Fruchtbarkeit der eigenen Gruppe zusammen. Daher sind die genommenen Köpfe auch im Junggesellenhaus ausgestellt. Die traditionelle Kosmologie bzw. das Weltbild der Naga entspricht dem, was früher als „Animismus“ bezeichnet wurde. Der Begriff bezieht sich auf die Konzeption von der Beseeltheit aller natürlichen Erscheinungsformen. Bei allen Naga ist besonders die im Kern schamanische Vorstellung einer „Zweitseele“ weit verbreitet, die mit einem Totem-Tier in Verbindung steht. Auch die Vorstellung von „animierten“ Objekten ist bei den Naga stark ausgeprägt.

In Nagaland, Meghalaya und Mizoram sowie der Bergregion Manipurs ist die Mehrheit der Bevölkerung heute christlich. Die Einwohner der Tiefland-Ebenen Assams, Tripuras und des Manipur-Tals sind dagegen mehrheitlich Hindus. Daneben gibt es eine muslimische Minderheit. Die „Christianisierung“ der Naga ist auf die frühe Einflussnahme britischer Missionstätigkeit, unterstützt durch amerikanische Baptisten, zurückzuführen. Die jungen Naga zeigen aus Eigeninteresse ein bemerkenswert hohes Interesse an Bildung, wohl auch, um aus dem Kreislauf von Clanherrschaft und Clanfehden ausbrechen zu können. Weil die Freikirchen mit staatlichen Fördermitteln Schulen einrichteten, auch um die Kopfjagd einzudämmen, war der Zulauf von Anfang an recht hoch. Auch konnte sich die Organisation der Schulen recht gut mit dem morung, dem Jugend- bzw. Junggesellenhaus, in Übereinstimmung bringen lassen. Die Naga haben heute den höchsten Bildungsstandard unter allen ländlichen Regionen Indiens.

Die meisten Naga leben in Subsistenzwirtschaft. Sie betreiben Brandrodungsfeldbau (jhum) an den die Dörfer umgebenden Berghängen. Einige Gruppen, wie die Angami und Chakhesang, pflanzen Nassreis in terrassierten Feldern an und kultivierten Feldfrüchte aus dem Brandrodungsfeldbau. Der Geograf und Forscher H. Goldwin-Austen bezeichnete das Gebiet des südlichen Burrail, des südöstlichen Himalaya, als eines der schönsten Gebiete Indiens und die dort angelegten Naga-Felder als „zu nie gesehener Perfektion entwickelt“. Sie lassen sich am ehesten mit Igorot- (in Luzon) und Paiwan-(in Formosa) Feldern vergleichen, die ein ähnlich hohes Level erreicht haben.

Raumansicht #1

Klicken Sie auf das Bild, um zu den Exponaten zu gelangen

Raumansicht #2

Klicken Sie auf das Bild, um zu den Exponaten zu gelangen